Alle lieben Touda
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Alle lieben Touda
„Alle lieben Touda“ // Deutschland-Start: 29. Mai 2025 (Kino)

Inhalt / Kritik

Sie singt seit ihrer Kindheit. Inzwischen ist Touda (Nisrin Erradi) selbst Mutter eines Kindes. Der Gesang ist noch immer ihre Leidenschaft. Ein wenig Geld kann sie ebenfalls damit verdienen. Das muss die junge Marokkanerin auch, denn sie zieht den neunjährigen Sohn Yassine (Joud Chamihy) alleine groß. Nicht nur in dieser Hinsicht ist die Sängerin aus der konservativen Kleinstadt eine moderne, emanzipierte, durchsetzungsstarke Frau. Sondern auch in ihrer Gesangskunst. Touda möchte als „Sheikha“ anerkannt werden. Sie sieht sich als Vertreterin eines Stils, der keine billige Folklore vorträgt, sondern sich mit einem frühen Feminismus verbindet, mit Wurzeln im 19. Jahrhundert. Die Sheikhas begehrten mit ihren Liedern, den Aïta, gegen Willkürherrschaft und Kolonialismus auf. Schon bald wurden sie deswegen als Huren verunglimpft. Heute ist ihre Kunst vom Aussterben bedroht, auch wegen intoleranter Auslegungen des Islam.

Leidenschaft pur

Wenn Touda singt, leuchtet ihr Gesicht. Das ist keine Performance des Geldes wegen. Leidenschaft pur strömt aus jeder Pore ihres Körpers. Es ist, als liege die komplette Seele auf ihren Stimmbändern, mit sämtlichen Gefühlsregungen, wie ein offenes Buch. Und so ist es kein Wunder, dass sich die Gesichtszüge augenblicklich verdunkeln, wenn Touda wieder einmal das erfährt, was ihr schon so oft begegnet ist: Dass sie von Männern als bloßes Lustobjekt betrachtet wird, nicht als Künstlerin. Kamerafrau Virginie Surdej registriert solche Blicke und ihre Wirkung mit messerscharfer Genauigkeit. Im dem von Großaufnahmen dominierten Porträt agiert die Kamera wie ein Seismograf kleinster Gefühlsveränderungen, immer nahe bei den Gesichtern, aber nie voyeuristisch, sondern liebevoll und zärtlich. Die Würde, die in den Bildern liegt, macht die Bauerstochter aus der Kleinstadt zu einer Heldin, die Besseres verdient hat als die Hürden, die man ihr hier in den Weg stellt. Tatsächlich verlässt Touda ihre Heimat und geht nach Casablanca. Zum einen, um ihren gehörlosen Sohn auf eine bessere Schule zu schicken, wo er die Gebärdensprache lernen kann. Zum anderen, um sich in der Metropole als seriöse Sheikha-Sängerin auf echten Bühnen zu etablieren, jenseits der schmuddeligen Bars und gelegentlichen Hochzeiten, wo man ihr Geldscheine in den Ausschnitt steckt.

Regisseur Nabil Ayouch (Much Loved, 2015) hat das Drehbuch zusammen mit seiner Frau, der Regisseurin Maryam Touzani, geschrieben. Bei deren Filmen Adam (2019) und Das Blau des Kaftans (2022) war wiederum der Ehemann als Produzent und Ko-Autor beteiligt. Auch hier geht es um Traditionen, die vom Aussterben bedroht sind – kleine Straßenbäckereien und aufwändige Nähkünste. Verblüffend ist aber vor allem die Gemeinsamkeit bei den visuellen Vorlieben des Ehepaars. Ihre Filme erzählen fast alles über zauberhafte, in weiches Licht getauchte Bilder, oft in Innenräumen, nahe bei den Menschen, ihrer Körpersprache und ihren Gesichtern. Auch Alle lieben Touda basiert auf genau eingefangenen Alltagsszenen. Selbst nach der brutalen Vergewaltigung, mit der der Film beginnt, entwickelt sich kein Rachedrama. Toudas Kraft und Kampfeswillen spiegeln sich stattdessen indirekt in kleinen Details. Zum Beispiel, wenn sie ihren Sohn dazu ermuntert, die ihn hänselnden Klassenkameraden bei den Eiern zu packen. Oder wenn sie sehr selbstbewusst ihrem Liebhaber zu verstehen gibt, wann sie Lust auf ihn hat – und wann nicht.

Durchlässiges Spiel

Jenseits forcierter Dramatik ist Nabil Ayouchs jüngste Arbeit das Paradebeispiel einer charakter-getriebenen Handlung. Trotz der mitschwingenden Verbeugung vor der Tradition der Sheikhas gerät ihm die Figur der Sängerin nicht zum abstrakten Gerippe für eine politische Botschaft. Touda ist so sehr ein Mensch aus Fleisch und Blut, dass man glaubt, sie schon seit Jahren zu kennen. Etwa wie eine gute Freundin, bei der Körpersprache und Mimik so durchlässig sind, dass man die innersten Emotionen auch ohne eingehende Gespräche mitfühlt. Die Lebensumstände in Marokko mögen einem europäischen Publikum so fremd bleiben wie die Gesangstraditionen und die genauen Trennlinien zwischen Pop-Folklore und echter Tradition. Was aber eine Frau wie Touda auszeichnet, welche Energie sie versprüht, wie verletzlich sie ist und gleichzeitig wie kampfeslustig – das überträgt sich ohne Kenntnis des kulturellen und sozialen Hintergrunds, einfach durch schiere Leinwandpräsenz.

Hauptdarstellerin Nisrin Erradi, die schon in Adam mitwirkte, spielt ihre Figur nicht nur mit umwerfender Lebensfreude. Sondern auch so, als sei sie mit einem angeborenen Gesangstalent auf die Welt gekommen. Aber in Wirklichkeit ist sie keine Sängerin, sondern „nur“ Schauspielerin. Wie der Regisseur in einem Interview verrät, trainierte sie eineinhalb Jahre, um so zu singen, zu tanzen und sich zu bewegen wie eine reale Sheikha. Die Echtheit ihrer Darstellung trägt den Film, der letztes Jahr im Wettbewerb von Cannes Premiere hatte. Ohne die Intensität ihrer Emotionen hätte auch die kunstvolle Inszenierung wohl nur ein mittelmäßiges Sozialdrama zustande gebracht.



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Alle lieben Touda
fazit
„Alle lieben Touda“ erzählt von einer leidenschaftlichen Sängerin, die sich von den hohen Hürden einer patriarchalen Gesellschaft nicht entmutigen lässt. Regisseur Nabil Ayouch vertraut ganz auf die Kraft seiner überzeugenden Hauptdarstellerin, deren emotionale Reise er in vielen Großaufnahmen aufscheinen lässt, ohne dafür Dialoge beanspruchen zu müssen.
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