Lebe schon lange hier
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Lebe schon lange hier

Lebe schon lange hier
„Lebe schon lange hier“ // Deutschland-Start: 24. Oktober 2019 (Kino)

Ein bisschen literarisch hört sich der Titel ja schon an, nicht unbedingt nach einem typischen Dokumentarfilm. Aber das will Lebe schon lange hier auch gar nicht sein. Dokumentarische Elemente hat der Film natürlich. Ein Jahr lang begleitet die Kamera Ereignisse an einer Kreuzung in Berlin, hält die vier Jahreszeiten hindurch fest, was sich auf den Straßen da so tut oder auch nicht tut. Eine Langzeitaufnahme, die an den Klassiker Berlin – Die Sinfonie der Großstadt erinnert und erinnern will. Damals war es ein Tag in der Hauptstadt, der Einblicke gewährte in das Leben der Menschen, durchaus also auch als Zeitporträt durchging.

Zum Teil tut Lebe schon lange hier das auch. Zumindest gibt es immer wieder einzelne Anzeichen, die eine konkrete zeitliche Einordnung erlauben – beispielsweise die Nachricht, dass der FC Bayern das Triple gewann. Genauer wurde der Film bereits 2013 gedreht, wie Fußballfans an der Stelle schlussfolgern werden. Anschließend lief er auf einen Filmfesten, bevor nun einige Jahre später die Kino-Auswertung erfolgt. Dass dies jetzt geschieht, verwundert ein wenig: Weder sind die Aufnahmen so alt, dass sie als historisch durchgingen, noch so aktuell, dass sie relevant erscheinen. Anders gesagt: 2013 ist zu weit weg und nicht weit weg genug.

Ein zeitloses Zeitporträt
Andererseits, trotz der zeitlichen Verankerung hat Lebe schon lange hier etwas betont Zeitloses. Schon die Schwarzweiß-Bilder erwecken den Eindruck, schon viel länger hier zu sein, ohne ein konkretes Gefühl zu erzeugen. Regisseur Sobo Swobodnik (Der Konzertdealer, 6 Jahre, 7 Monate und 16 Tage – Die Morde der NSU) hat zwar einen Film über seine Heimat Berlin gedreht, es ist aber kein wirklicher Berliner Film draus geworden. Nur selten gibt es klar wiederzuerkennende Orte. Stattdessen fängt der Filmemacher hier eine Alltäglichkeit ein, wie man sie in ihrer Banalität überall finden könnte. Straßenarbeiter, Katzen, Autos, es ist das ganz normale Leben, das mit der Kamera eingefangen wird.

Dazu ertönen Tonaufnahmen aus der Wohnung, die den Eindruck vermitteln, dass man es sich tatsächlich am Fenster gemütlich gemacht hat und die Welt da unten beobachtet, während Radioaufnahmen die News näherbringen. Das ist zwangsläufig nicht spektakulär. Weder bringt Lebe schon lange hier neue Erkenntnisse mit sich, noch besteht der Film aus außergewöhnlichen Situationen. Das hört sich vermutlich etwas langweilig an, wer selbst kein Vergnügen dabei empfindet, sich irgendwo mal hinzusetzen und die Augen offenzuhalten für die Menschen und deren Leben, der wird das hier tendenziell ebenso wenig tun.

Und doch hat der Film seinen Reiz, gerade auch in Verbindung durch die Essay-Elemente. Vorgetragen von Clemens Schick werden die Bilder mit ganz allgemeinen Überlegungen verwoben, gerne von existenzieller Natur. Manchmal korrespondieren diese Gedanken mit dem Gezeigten, mal schweben sie ganz losgelöst über die Kreuzung. Gleiches gilt für die ungewöhnliche Musik von Till Mertens, die in der einen Szene passend zum Geschehen eingesetzt wird, dann wiederum aus einem völlig anderen Film zu stammen scheint. So als hätte man versehentlich die Filmrollen vertauscht.

Das alles fügt sich zu einem besonderen Film zusammen, ein Teppich aus Bildern und Geräuschen, Belanglosigkeiten und Profundem. Darauf muss man sich einlassen können, Lebe schon lange hier ist nichts, was man sich ein bisschen nebenher anschauen kann. Und selbst wer genauer hinschaut, geduldig die anderthalb Stunden mitmacht, wird am Ende eventuell verwirrt sein, was das denn nun sollte. Eine Antwort darauf liefert Swobodnik nicht, er überlässt es lieber dem Publikum, eigene Schlüsse zu ziehen, einen Sinn im Chaos zu entdecken und sich selbst auf einer Kreuzung zu suchen, wo täglich das Leben zusammenkommt, ohne dass man dies im Alltag noch bemerken würde.



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„Lebe schon lange hier“ beobachtet ein Jahr lang das Geschehen auf einer Berliner Straßenkreuzung. Das ist zwangsläufig unspektakulär, entwickelt aber einen ganz eigenen Reiz, wenn Belanglosigkeit mit universellen Überlegungen verknüpft werden, dabei ein aus der Zeit gefallenes Zeitporträt entsteht.