Alles was kommt
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Alles was kommt

(„L’avenir“ directed by Mia Hansen-Løve, 2016)

„Alles was kommt“ ist seit 10. März 2017 auf DVD und Blu-ray erhältlich

Eigentlich, so dachte Nathalie (Isabelle Huppert) ja, wäre in ihrem Leben alles geregelt. Als Philosophielehrerin in einem Pariser Lycée hat sie ein verlässliches Einkommen, ihre eigenen Lehrbücher genießen großes Renommee. Seit 25 Jahren ist sie mit ihrem Kollegen Heinz (André Marcon) verheiratet. Und dann wäre da noch ihr ehemaliger Student Fabien (Roman Kolinka), den sie fördert und mit dem sie anregende Gespräche führen kann. Doch nach und nach muss sie mitansehen, wie sie all das wieder verliert. Bis sie sich fragen muss, was sie eigentlich selbst noch vom Leben erwarten kann.

Unterschiedlicher könnten die letzten beiden Filme von Mia Hansen-Løve wohl kaum sein, zumindest auf den ersten Blick. Während die französische Regisseurin und Drehbuchautorin in Eden – Lost in Music zwei jungen lebenshungrigen Männern folgt, die den großen Durchbruch als DJs suchen, finden wir in Alles was kommt eine gut situierte Dame mittleren Alters, die eigentlich alles hat, was sie braucht. Bis sie es nicht mehr hat. Und doch: Gemeinsamkeiten gibt es hier an vielen Stellen. Zum einen sind beide Werke biografisch gefärbt, der erste Film orientiert sich an Hansen-Løves Bruder Sven, der zweite an ihrer Mutter, die selbst Philosophielehrerin war. Und in beiden Fällen geht es auch um die Suche nach dem, was einen ausmacht. Dessen, was wir vom Leben erwarten.

Und: Beide Filme sind herausragend gespielt. Dieses Mal ist es Isabelle Huppert, welche dieses Jahr dank Elle in aller Munde war, hier aber auch in einem deutlich zurückgenommeren Drama zeigt, weshalb sie zur ersten Garde Frankreichs zählt. Sie habe beim Schreiben des Drehbuchs an Huppert gedacht, verriet Hansen-Løve. Und die Art und Weise, wie die Veteranin sich die Rolle zu eigen macht, das gesamte Geschehen dominiert, lässt auch keinen Zweifel daran, dass diese Aussage stimmt. Dabei ist ihre Nathalie eigentlich alles andere als eine dominante Persönlichkeit. Sie lässt es sich zwar nicht nehmen, das grelle Titelbild einer geplanten Neuauflage ihres Buches scharf zu kommentieren. Und auch sonst blitzt bei ihr immer durch, was ihr Ziel im Leben war: anderen Menschen beizubringen, für sich selbst zu denken.

Wirklich kämpfen tut sie aber nicht. Es ist sogar manchmal geradezu befremdlich, wie stoisch sie alles über sich ergehen lässt: die Demütigungen ihres Verlages, die ihres Mannes, der sie nach 25 Jahren der Ehe für eine Jüngere verlässt. Angriffe von Fabien, den sie immer verteidigt hat, der aber auf eine recht selbstgerechte Weise eine deutlichere Radikalität von ihr fordert. Selbst die persönlichen Tragödien in ihrem Leben scheint sie fast unmenschlich gut wegzustecken. Wo andere Dramen angesichts der vielen Rückschläge das Ende der Welt gefordert hätten, da ist Alles was kommt deutlich leiser. Introvertierter. Nachdenklicher. Nur dann und wenn, wenn niemand da ist, leistet sie sich einen Zusammenbruch. Versucht nicht die Starke zu sein, die Souveräne. Darf dann auch einfach mal ein Mensch sein.

Das wird so manchem Zuschauer nicht genug sein. Umso mehr, da Hansen-Løve auch beim Drumherum sparte. Von kleinen Ausflügen in ein Landhaus abgesehen, wo sich Fabien und seine Freigeister-Freunde verbarrikadieren, gibt es relativ wenig fürs Auge. Und fürs Ohr schon mal gar nicht: Wo in Eden noch pulsierende Beats die Selbstsuche begleiteten, ist es hier meistens die Stille. Doch das muss kein Mangel sein. So wie auch der Verlust der Sicherheiten und Selbstverständlichkeiten keiner sein muss. Der vielen Bindungen beraubt, die Natalie bislang prägten – familiäre, soziale, finanzielle –, entdeckt sie nun eine Freiheit. Einen Weg, den sie neu für sich entdecken kann. Nicht umsonst hieß der Film im Original Die Zukunft: Wo die Vergangenheit wegfällt, da richtet sich hier der Blick in die Gegenrichtung. Und es ist dann fast schon tröstlich, wie Alles was kommt hierin nicht das furchteinflößende Ungewisse entdeckt, sondern die Möglichkeit, etwas zu finden. Neue Menschen. Neue Ideen. Neue Wahrheiten. Und vielleicht sogar sich selbst.



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„Alles was kommt“ ist ein sehr minimalistisches Drama über eine Frau, die nach dem Verlust aller Selbstverständlichkeiten neue Wege sucht. Das ist wenig aufregend, zuweilen fast befremdlich leer, aber herausragend gespielt und irgendwie auch tröstlich.
8
von 10