Die letzte Nacht des Boris Gruschenko

Die letzte Nacht des Boris Gruschenko

(„Love and Death“, directed by Woody Allen, 1975)

“You are the greatest lover I’ve ever had.”

“Well, I practice a lot when I’m alone.”

Die russische Literatur ist ein Universum für sich. Woody Allen liebt dieses Universum, die Schriften und die Philosophie. Aus dieser Leidenschaft heraus entstand das Drehbuch zu Love and Death, welches 1975 gefilmt wurde. Bevor Allen sich endgültig in New York niederließ, um fast ausschließlich dort zu filmen, drehte er beispielsweise Sleepers in Kalifornien und Die letzte Nacht des Boris Gruschenko in Frankreich und Ungarn, was nur eine logische Wahl war, da das Amerika der 70er Jahre für diese Geschichte nur schwerlich passend gewesen wäre. Zur Seite stand dem Regisseur eine größtenteils französische Crew, obwohl ein großer Teil des Films, hauptsächlich aus finanziellen Gründen, in Ungarn gedreht wurde.

Das hier besprochene Werk markiert demnach eine Zeit im Leben des Filmemachers, in der er noch nicht in seinen Gewohnheiten derart festgefahren war, wie er es spätestens mit Annie Hall werden würde. Abgesehen davon markiert Love and Death auch eine Weiterentwicklung Allens, der mit Take the Money and Run und Bananas eher zahlreiche Sketche aneinanderreihte, die fast zufällig eine mehr oder weniger lose Geschichte ergaben. Während Sleepers, der kurz vor dem hier rezensierten Film entstand, in dieser Hinsicht einen Sprung vorwärts machte, eine lineare Geschichte erzählend, flossen in Die letzte Nacht des Boris Gruschenko tiefsinnige Philosophien ein – misanthropisch und mit wenigen Hinweisen auf Lebensfreude, wie sie das spätere Werk Woody Allens immer wieder durchziehen sollten. In dieser Hinsicht ist die 1975 gedrehte Komödie mehr als ein bloßes Lustspiel, sondern zeigt auf beeindruckende Weise die Weiterentwicklung des noch jungen Filmemachers, der hier unter zahllosen Gags in verschiedensten Formen auch Denkanstöße zu geben vermag.

Woody Allen selber spielt Boris Gruschenko, einen russischen Jungen aus einer nicht sehr wohlhabenden Familie. Er hat sich unsterblich in seine Cousine Sonja (Diane Keaton) verliebt, doch wie es der Zufall und der literarische Stoff in viele russischen Romanen will, empfindet diese keinerlei Gefühle für den schmachtenden Boris, sondern für dessen Bruder. Dieser wiederum bricht Sonja das Herz, indem er auf einer Feierlichkeit bekannt macht, dass er eine andere Frau als seine Cousine heiraten wird. Von dieser Ablehnung vor den Kopf gestoßen, nimmt Sonja wahllos das Heiratsangebot eines stinkenden Fischhändlers an, der sich nur für Heringe zu interessieren scheint. Obwohl dieser überglücklich über die Zusage seiner attraktiven Angebeteten ist, steht die Ehe unter keinem guten Stern. Sonja langweilt sich zu Tode und hält sich Hunderte Geliebte. Von all dem erfährt Boris kaum etwas, denn dieser wurde gegen seinen Willen in den Krieg geschickt, da Napoleon Bonaparte Österreich angegriffen hatte und man jeden verfügbaren Mann im Kampf brauchte.

Durch einen glücklichen Zufall gehört er schließlich zu den 14 Überlebenden in diesem schwierigen Krieg und wird hochdekoriert entlassen. Auch wenn er sich auf eine Affäre mit der Contessa einlässt, wird für ihn schnell klar, dass es für ihn nur eine einzige Liebe gibt: Sonja. Diese hüpft in der Zwischenzeit durch alle Betten Russlands und nimmt nur den Heiratsantrag von Boris an, weil sie glaubt, dieser würde ohnehin an einem am nächsten Tag stattfindenden Duell sterben. Doch Boris überlebt und widerwillig legt seine Verlobte später das Treuegelübde ab. Doch auch ihre Ehe leidet, denn das Paar ist arm und ernährt sich vorzugsweise von Schnee. Als sie hören, dass Napoleon ihr Land angreift, will Boris fliehen, doch seine Frau hat einen anderen Plan: Napoleon muss getötet werden!

All das klingt nach sehr viel Handlung für lediglich 80 Minuten Film. Es ist in der Tat sehr viel Handlung und genau darin liegt das Faszinierende an diesem Werk, das in dieser Eigenschaft die Unterschiede zu anderen, weniger gelungenen, aber mindestens ebenso stark gefüllten Filmen darlegt. Trotz dieser Reichhaltigkeit läuft Woody Allen nie Gefahr, Handlungsstränge aus den Augen zu verlieren oder einen Aspekt nur lose anzureißen, um ihn zugunsten eines anderen wieder fallenzulassen. Indem der Regisseur und Drehbuchautor Allen die Ereignisse streng chronologisch erzählt, vernachlässigt er keine Handlungsstränge und entwickelt sich kontinuierlich weiter, den Zuschauer auf die nächste Ebene dieser tiefsinnigen Komödie über Leben, Lieben und Tod führend.

Die letzte Nacht des Boris Gruschenko bleibt niemals stehen und entwickelt sich in atemberaubendem Tempo unaufhörlich weiter, während sich Gag an Gag reiht, die sich vom in Bananas zelebrierten Slapstick in anarchistischem Dialogwitz gewandelt haben. Für den in russischer Literatur bewanderten Zuschauer vermag der Film freilich noch mehr Spaß zu garantieren, denn in grotesken Szenen und Andeutungen werden die Eigenheiten bekannter Romane ad absurdum geführt, wenn die komplexen Verkettungen in Quasi-Liebesbeziehungen kein Ende nehmen wollen. Auch wenn nicht jeder Scherz zündet, wartet Love and Death mit einer gut durchdachten, linear erzählten Geschichte auf, die in unbarmherzigem Tempo als Feuerwerk von originellen Ideen gefeiert werden kann. Woody Allen hatte hiermit den nächsten Schritt getan, der zu intellektuelleren Filmen seiner selbst führen sollte.



(Anzeige)

9
von 10