American History X

American History X

(„American History X“, directed by Humpty Dumpty, 1998)

“People look at me and see my brother.”

Bei einer der ersten Filmvorführungen dieses Werks wurde eine Orange gegen die Leinwand geschmissen. Der Regisseur wollte seinen Namen von dem Projekt zurückziehen. Statt „Tony Kaye“ sollte „Humpty Dumpty“ im Vorspann erscheinen. Das Studio wurde von ihm auf geschätzte 275 Millionen Dollars verklagt. All dies klingt nicht nach einer Erfolgsgeschichte für den Regisseur Tony Kaye, denn auch er war jene Person, welche die Orange gegen die Leinwand geschmissen hatte. Ein frustrierendes Erlebnis für den Regie-Neuling, der zuvor lediglich mit dem Drehen von Werbespots Erfahrungen gesammelt hatte.

Die Ursache für dessen Ärger war Hauptdarsteller Edward Norton, der den Film neu schneiden ließ, um seine Laufzeit zu verlängern, was – um das vorweg zu greifen – ein Fehler war und dem Film nicht zu Gute kam.  Kaye, der sich selbst einmal den größten englischen Regisseur seit Hitchcock nannte, war berüchtigt für seine Egozentrik und Exzesse, welche die Darsteller in den Wahnsinn treiben konnten – einer seiner berüchtigten Scherze ist der Aufzug, indem er zum ersten Drehtag bei einem Film mit Marlon Brando erschien, verkleidet als Osama bin Laden. Zwei Tage später kündigte Kaye. Trotz derartiger Geschichten ist sein American History X ein durchaus empfehlenswerter Film geworden, der zwar mit seinem derzeitigen Rangplatz 40 in der Liste der besten Filme aller Zeiten in der IMDb maßlos überschätzt ist, aber dennoch viele gute Aspekte aufzuweisen hat.

Ein kahlgeschorener Kopf, ein unübersehbares Hakenkreuz auf der Brust tätowiert, eine stille, unruhige Nacht und der Zuschauer ist mitten im Geschehen. Derek Vineyard (Norton) ist ein Skinhead. Sein Vater ist tot, erschossen von einem Schwarzen. Seitdem lebt er mit seiner Mutter (Beverly D’Angelo), seinem Bruder Danny (Edward Furlong) und seinen zwei Schwestern in dem Haus, indem er aufwuchs. Eines Nachts klopft sein Bruder an seine Zimmertür, während Derek mit seiner Freundin schläft und es gibt keinen Zweifel, dass er gut darin ist. Drei Schwarzen versuchen, seinen Wagen zu klauen. Es dauert nur wenige Sekunden, da ist Derek aus seinem Bett gesprungen, hat die Pistole aus dem Schrank geholt, sich eine Unterhose übergezogen und sich zur Haustür begeben. Berechnend horcht er auf Geräusche von außen. Es ist die Nacht, die sein Leben verändern wird. In Sekundenschnelle reißt er die Tür auf, feuert mit mehreren Schüssen auf die Diebe. Einer kann entkommen, die anderen beiden sind tot. Für Derek ist dies der Beginn der schwersten Zeit seines Lebens. Drei Jahre verbringt er für diese grausame Tat im Gefängnis. Das Schlimmste ist dabei aber, dass er seine Familie aus der Situation nicht heraushalten konnte.

Sein Bruder Danny hat sich ebenfalls einer nazistischen Bewegung angeschlossen, sich den Kopf kahlgeschoren, eine Hausarbeit mit dem Thema „Mein Kampf“ abgegeben. An diesem Tag wird Derek aus dem Gefängnis entlassen. Er hat sich verändert, wie einige mit Freuden feststellen, andere mit wachsendem Argwohn. Mit seinen neuen Attitüden bringt er bald seine alte Gang gegen sich auf, mit der er nichts mehr zu tun haben will. Er hat gelernt und mit seiner alten Welt abgeschlossen. Sein Ziel ist es nun, seinen Bruder Danny aus den Fängen dieser Gesellschaft zu befreien. Doch will Danny das? Oder ist es bereits zu spät, um sein Leben zu retten? Derek zur Seite steht der Schuldirektor Dannys Dr. Sweeney (Avery Brooks), der dem Teenager die Aufgabe gegeben hat, eine Hausarbeit mit dem Titel „American History X“ zu verfassen. Für Danny wird es eine eingehende, unangenehme Beschäftigung mit der Vergangenheit seines Bruders, der ihm fremd geworden ist.

Die positivsten Dinge, die man diesem Film anrechnen kann und muss sind sowohl die Kameraarbeit mit teilweise sehr kräftigen Bildern und die hervorragenden Schauspieler, die diesen Film zu tragen wissen. Norton wurde für seine Rolle als geläuterter Skinhead mit Nominierungen überhäuft, doch es wäre unfair, nur ihm Anerkennung zukommen zu lassen. Der damals 21jährige Edward Furlong brilliert als starrköpfiger Neonazi, für den sein Bruder nur als Peiniger von Afro-Amerikanern ein Vorbild ist. Beverly D’Angelo, bekannt als Ehefrau von Chevy Chase in den National Lampoon-Filmen, war wohl nie besser als in dieser Rolle als kranke, sich bemühende, aber zu schwache Mutter, der ihre Söhne längst entglitten sind. Auch die Nebendarsteller sind mit erstklassigen, hochkarätigen Darstellern besetzt: Avery Brooks als gutherziger, aber strenger Lehrer überzeugt vollkommen, Elliot Gould als gedemütigter Lebenspartner D’Angelos macht den Schmerz, den er erlebt, glaubwürdig spürbar. Tony Kaye macht es sich nicht einfach, indem er eine verschachtelte Erzählform anwendet, was ein sehr geschicktes Konzept ist. Je weiter man in die Gesellschaft der Neo-Nazis vordringt und je besser man ihre Welt kennen lernt, desto mehr erfährt man über die Wandlung Dereks, ist daher filmisch hin- und hergerissen von der Faszination, die diese fremdenfeindliche Gesellschaft auf Danny ausübt und von den Beweggründen, die Derek erfahren hat, von eben dieser Welt Abstand zu gewinnen.

In schwarz/weißen Rückblenden erfährt der Zuschauer, was Derek zu dem Menschen gemacht hat, der er nun ist. Zumeist geschieht das in Form von Diskussionen über den Umgang mit Rassismus in der Gesellschaft. Es ist eine interessante soziologische Studie über Immigranten, die heute aktueller ist denn je. Für diese Szenen, die zu den stärksten des Films gehören, bekommt der Zuschauer die Brille der Neo-Nazis aufgesetzt, man versetzt sich in ihre Lage, sieht die Welt mit ihren Augen. Das heißt nicht, dass Rassismus in diesem Film verherrlicht oder kleingeredet wird, doch es sind eben die Diskussionen am Mittagstisch über die Politik des Landes, die mehrere Milliarden für illegale Immigranten aufwendet, die wahrscheinlich viele Familien, unabhängig von ihrem Land, führen, ohne dass dies jemand weiß und ohne, dass es derart monströse Züge annimmt wie bei den Vineyards.

Es ist bedauerlich, dass American History X trotz dieser Unterhaltungen, die das Werk gegen Ende etwas zäh werden lassen, recht oberflächlich geworden ist. Man erahnt, wie Derek zu einem derartigen Ungeheuer geworden ist, doch Tony Kaye geht nicht in die Tiefe um das Seelenleben seiner Charaktere zu durchleuchten. So gibt er sich bei der Begründung für Dereks finalen Sinneswandel auch lediglich mit erwarteten Plattitüden wie der Vergewaltigung in der Gefängnisdusche ab. Derek hat sich geändert, wie dies von statten ging, wird angerissen, der Zuschauer muss es akzeptieren, schließlich geht es nicht um das „wie“, sondern schlicht darum, dass er sich geändert hat.

Die Oberflächlichkeit der Charaktere – besonders auffallend ist dies bei Danny, über dessen Beweggründe man im Verlaufe des Films kaum etwas erfährt – ist deshalb unbefriedigend, da Kaye genügend Möglichkeiten für eine eingehendere Betrachtung hat verstreichen lassen, obwohl Chancen greifbar nah waren. Danny ist noch ein Teil Familienmensch geblieben, der sich für seine kleine Schwester abends liebevoll Zeit nimmt, Derek möchte diese Eigenschaften schützen und wahren, während es seiner Mutter immer schlechter geht. Hätte sich der Regisseur auf derlei Betrachtung konzentriert, anstatt auf allmählich ermüdende Diskussionen, hätte American History X ein erstklassiger, abschreckender Rassismus-Film werden können, über den nicht nur die Filmwelt noch lange diskutiert hätte.

Empfehlenswert ist er dennoch, schließlich wartet er mit einigen stark gefilmten Szenen auf, wenn auch die sehr intensive Verwendung von Zeitlupen allmählich zu ermüden droht. Starke Schauspieler machen einige Schwächen wett und trotz Oberflächlichkeit bleibt American History X eine interessante Studie darüber, wie leicht und auf welche Weise sich Rassismus in unsere Gesellschaft einschleichen kann. Das Ende dieses Werks wird sicher vielen Zuschauer lange im Gedächtnis haften bleiben, wenn auch in erster Linie durch die Tatsache, dass keinerlei Erklärung für das finale Geschehen geliefert wird, sondern es als plakatives, wenig sinnvolles Statement für sich alleine steht.



(Anzeige)

8
von 10