Die 12 Geschworenen

Die 12 Geschworenen

(„12 Angry Men“, directed by Sidney Lumet, 1957)

Kritik von Stephan Eicke

”What are you so polite about?“

“For the same reason you are not: it’s the way I was brought up.”

Sidney Lumet hat drei unvergängliche Meisterwerke der Filmgeschichte geschaffen. Hundstage mit Al Pacino, Network mit William Holden und Die zwölf Geschworenen mit Henry Fonda – letzterer rangiert unter den Top 10 der besten Filme aller Zeiten in der Liste der International Movie DataBase (Stand: Dezember 2010). Der 2005 mit dem Ehrenoscar für sein Lebenswerk ausgezeichnete Regisseur beleuchtet hier die Wahrheitsfindung von zwölf vollkommen unterschiedlichen Menschen – ohne Gewalt, ohne Flüche, ohne Explosionen, schlicht in 90 Minuten Dialog.

12 Angry Men war 1957 das Spielfilmdebüt Lumets, gedreht mit einem sagenhaften Budget von nur 35.000 Dollars, wobei der größte Betrag sicherlich für das Aushängeschild Henry Fonda veranschlagt wurde. Davon abgesehen konnte man bescheiden sein, denn der gesamte Film spielt – abgesehen von einer kurzen Einleitung und einer kurzen Schlussszene – gleich einem Theaterstück in nur einem einzigen Raum. Dieser Raum ist jener, in dem sich die zwölf Geschworenen einfinden müssen, nachdem ein Prozess sein Ende gefunden hat. Die Aufgabe der Leute ist es nun, darüber zu entscheiden, ob der Angeklagte schuldig ist oder ob noch zu viele Lücken in der Beweislage zu finden sind.

In diesem Fall geht es um Mord. Der Angeklagte ist ein armer 18jähriger Amerikaner ausländischer Abstammung, aufgewachsen in der schmutzigsten Gegend. Er wird beschuldigt, seinen Vater, der ihn regelmäßig geschlagen hat, kaltblütig erdolcht zu haben. Dies belegen zwei Zeugenaussagen. Für elf Geschworene ist der Fall sofort klar, ohne dass eine Diskussion nötig ist – der Angeklagte ist schuldig. Nur einer der Geschworenen, die im Film alle keinen Namen haben, hat Zweifel an der Schuld des Jungen – Geschworener Nummer acht. Er beginnt, sich gegen die ungeduldigen Gegenstreiter zur Wehr zu setzen, indem er sie sachlich zu überzeugen versucht und sie so nach und nach auf seine Seite ziehen will…

Das dem Film zugrunde liegende Konzept der zwölf Geschworenen taucht in nahezu jeder Krimiserie mindestens einmal auf – mal mehr, mal weniger offensichtlich als Hommage an Lumets Klassiker, sei es in Mord ist ihr Hobby oder in Monk. Hier geht es jedoch nicht primär um den Kriminalfall, sondern darum, wie Fonda die anderen zu überzeugen versucht, wodurch sich eine hochinteressante Charakterstudie entwickelt, da jeder auf andere Indizien anspringt, die auf die jeweilige Persönlichkeit schließen lassen. Lumets Regiearbeit ist beeindruckend, denn er dringt fast unbemerkt in das Seelenleben seiner Figuren ein. Dies gelingt ihm durch Close-Ups der Kamera auf das Gesicht eines Geschworenen, während im Hintergrund der Fall weiter verhandelt wird.

Der Fall spielt jedoch in diesem Moment nicht die geringste Rolle, vielmehr erfährt der Zuschauer, woran die porträtierte Person in diesem Moment denkt, ohne dass sie auch nur ein einziges Wort zu sagen braucht. Gesten oder Worte haben sie an bestimmte Erlebnisse aus ihrem Leben erinnert, denen sie nachhängen, von denen sie sich nicht lösen können. Auf diese Weise werden sie indirekt gezwungen, sich mit dem Fall näher zu beschäftigen, obwohl sie viel lieber zu einem Baseball-Spiel gehen wollen. In dieser Weise werden innerhalb von eineinhalb Stunden zwölf Menschen ohne Namen vorgestellt. Man kennt am Ende ihre wichtigsten Eigenschaften, da man gelernt hat, sie einzuschätzen. Die namenlosen Geschworenen werden gespielt von Gesichtern, die jeder Film- und Fernsehzuschauer zu einem Großteil kennt oder zumindest schon mindestens einmal gesehen hat, als da wären Jack Klugman (Quincy), Jack Warden (Bulworth), E.G. Marshall (Innenleben), Lee J. Cobb (Lawman) oder Robert Webber (Bring mir den Kopf von Alfredo Garcia), von denen Cobb als aggressiver und oft aufbrausender Sadist sowie natürlich Henry Fonda als rationaler Architekt besonders hervorstechen und sich in diversen Wortduellen gegenseitig an die Wand spielen, sodass es eine Freude ist, ihnen dabei zuzusehen, wer die besseren Argumente vorzuweisen hat.

Die zwölf Geschworenen zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie leichtfertig über ein Menschenleben entschieden werden kann und wie leicht sich ein Mensch bei dieser Entscheidung von persönlichen Vorurteilen – bewusst oder unterbewusst – leiten lassen kann, sei es Rassismus oder tiefer liegende private Probleme. Das macht dieses Kammerspiel derart spannend: werden sich die anderen Geschworenen von Fonda überzeugen lassen? Wie werden sie sich überzeugen lassen? Was sind die Hintergründe für ihre Standpunkte? Was geht in ihnen wirklich vor? Wie beurteilen sie die anderen Geschworenen? Was bewirken verletzende oder beleidigende Worte der anderen? Die detaillierte Regieführung Lumets, die bravourösen schauspielerischen Leistungen aller Beteiligten, und die Lektion, niemals leichtfertig mit einem Menschenleben umzugehen machen diesen Film zu einem wahrhaft großen, zeitlosen Werk, welches zudem noch erstaunlich kurzweilig und in jeder Sekunde fesselnd ist.

Kritik von Falko Fröhner

In seinem von der internationalen Kritik hochgelobten Spielfilmdebüt aus dem Jahr 1957 12 Angry Men schildert Sidney Lumet die Konferenz zwischen zwölf Geschworenen, in deren Verlauf sie die Frage nach der Schuld eines Achtzehnjährigen, dem ein Mord vorgeworfen wird, zu entscheiden haben.

Ein Junge, der der untersten Gesellschaftsschicht entstammt, wird des Mordes an seinem Vater bezichtigt. Die vor Gericht angeführten Beweise sind dermaßen erdrückend, dass für den Angeklagten kaum Hoffnung auf einen Freispruch besteht. Es liegt nun im Ermessen der zwölf Geschworenen, derer elf von der Schuld des jungen Mannes überzeugt sind, über das Leben des Beschuldigten zu entscheiden, da eine Verurteilung die Todesstrafe bedeuten würde. Der Geschworene Nr. 8 gemahnt daher, den Fall noch einmal genauestens zu erörtern, um abzusichern, dass es sich bei dem Jungen tatsächlich um den Mörder seines Vaters handelt. Nach und nach kann er die anderen Geschworenen von der Ungenauigkeit der Indizien, die gegen den Angeklagten angeführt werden, überzeugen…

Obwohl es sich bei 12 Angry Men im engeren Sinne um ein Justizdrama handelt, konzipiert Drehbuchautor Reginald Rose den Film vielmehr als ein soziologisches Experiment: zwölf Männer, die unterschiedlicher Herkunft, Bildung und Intelligenz sind und zuvor einander noch nie begegnet sind, werden mit der Aufgabe betraut, über das Leben eines Jugendlichen zu entscheiden. Innerhalb der ersten Minuten im Geschworenenzimmer bildet sich eine klare Gruppendynamik heraus, da der Geschworene Nr.8, ein Architekt, welcher die Beweise für nicht ausreichend erachtet, und der Geschworene Nr.3, ein grobschlächtiger, aufbrausender Mann mittleren Alters, der vehement für die Schuld des Angeklagten plädiert, zu den Wortführern der beiden Parteien, die sich im Verlauf des Gesprächs herausbilden, werden.

Auch die anderen Geschworenen erweisen sich im Verlauf jenes Gesprächs als komplexe Individuen, die keinesfalls bloße Repräsentanten einer bestimmten Gesellschaftsschicht sind, sondern durch spezifische Verhaltensweisen und – muster charakterisiert sind- der Geschworene Nr. 6 ist beispielsweise ein Kleinbürger, der sich als Anstreicher verdingt, jedoch auf Grund seiner christlichen Werte für eine erneute Besprechung der gegen den Beklagten vorgebrachten Indizien ist, um dessen Schuld ganz und gar beweisen zu können; der Geschworene Nr. 7 hingegen, ebenfalls ein Kleinbürger, ist primär daran interessiert, das am Abend stattfindende Baseball- Spiel nicht zu verpassen und will die Besprechung aus diesem Grund möglichst früh beenden. Lumet bzw. Rose gehen jedoch noch einen Schritt weiter, indem sie in 12 Angry Men nicht nur die Kollision verschiedener Schichten bzw. Individuen und der damit einhergehenden unterschiedlichen Moralvorstellungen thematisieren, sondern, verdichtet im Geschworenenzimmer, den Konflikt zwischen den Generationen der „Väter“ und „Söhne“ beschreiben; obwohl einige Geschworene den Angeklagten als einen „Proleten“, der keinerlei Respekt vor seinem Vater gehabt habe, bezeichnen, verhalten sich ausgerechnet diese dem ältesten Mitglied der Jury gegenüber unverschämt und herablassend. Der Geschworene Nr. 3, der zu seinem 22jährigen Sohn keinen Kontakt mehr hat, nimmt die Erziehungsmethoden des Ermordeten, der seinen Sohn regelmäßig geprügelt hat, sogar in Schutz, indem er behauptet, dass „ein paar Ohrfeigen“ noch keinem schlecht getan haben. Insofern ist in der Dramaturgie des Films kein Zufall, dass es sich bei dem Angeklagten ausgerechnet um einen (vermeintlichen?) Vatermörder handelt.

Die angespannte Diskussion und der darauf folgende Meinungsumschwung spiegeln sich inszenatorisch in der hochsommerlichen Hitze, auf die am Abend ein heftiges Gewitter folgt, wider. Henry Fonda, der in dem Part des Geschworenen Nr.8 zu sehen ist, spielt den Typus des „mündigen Staatsbürgers“ mit großer Intensität und ohne unangemessenes Pathos. Auch die anderen Schauspieler sind hervorragend und verleihen ihren Rollen durch ihre markanten Gesichter und Mimen, die durch die dezente Kameraführung Boris Kaufmans immer wieder in Nahaufnahmen eingefangen werden, typische Eigenschaften und -arten.

Sidney Lumets Debütfilm ist ein intensives Drama, das trotz der reduzierten (der Großteil des Films spielt im Konferenzzimmer der Geschworenen) Inszenierung enorm fesselnd ist und außerdem eine interessante Auseinandersetzung mit der Interdependenz von eigenen Ansichten und der objektiven Meinungsbildung bietet.



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Stephan Eicke
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Falko Fröhner
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