Alphaville

Lemmy Caution gegen Alpha 60 (Alphaville)

(„Alphaville“ directed by Jean-Luc Godard, 1965)

AlphavilleEin Jahr vor François Truffauts gleichnamiger Filmadaption von Ray Bradburys Anti-Utopie Fahrenheit 451 hat bereits Jean-Luc Godard mit Lemmy Caution gegen Alpha 60 oder Alphaville eine Filmdystopie vorgelegt. Zwar liegt dem Film kein expliziter Roman zugrunde, jedoch dürfte Godard ebenfalls von Bradbury und Co. inspiriert worden. Der Geheimagent Lemmy Caution (Eddie Constantine) kommt getarnt als Journallist nach Alphavile. In der futuristischen Stadt, die vollständig unter der Kontrolle und Planung des Zentralcomputers „Alpha 60“ steht, sucht er den vermissten Henry Dickson (Akim Tamiroff). In der entmenschlichten Stadt herrscht das Gesetz der absoluten Logik – Gefühle, Liebe und Kunst sind verboten, jegliche Vergehen werden mit der Todesstrafe bestraft. Natascha (Anna Karina) kümmert sich beruflich um Caution, der sie jedoch dazu bringt das System anzuzweifeln, indem er ihr Gewissen reaktivieren will.

Die narrative Struktur wird durch zwei Erzähler abwechselnd gestrickt: Cautions Stimme ertönt aus dem Off und berichtet tagebuchartig von seinen Erlebnissen aus der technikgläubigen Computerstadt. Daneben brummt eine zweite, verfremdete, Computerstimme: Alpha 60 kommentiert mal philosophisch und mal analytisch das Geschehen. Die Tonspuren sind leider dermaßen schlecht in die Tonästhetik eingefügt, dass die Computerstimme im Originalton schnell nervt. Der Schwarzweißfilm besticht durch innovative Licht-Schatten-Spiele und eine futuristisch anmutende Optik, die verblüffend an Orson Welles‘ Kafka-Adaption Der Prozess erinnert. Zudem spielt Godard mit Negativ-Aufnahmen und seinen altbekannten und zu seinem Markenzeichnen avancierten comicartigen Schnitttechniken. Ungewöhnliche Schuss-Gegenschuss-Aufnahmen – Front-Nahaufnahme der Gesichter – und ein auf- und abblendendes Signallicht (Alpha 60), das im Prinzip schon die Idee zum Supercomputer „HAL“ aus Stanley Kubricks 2001: Odysee im Weltraum vorwegnimmt, sind weitere filmtechnische Stilmittel des französischen Autodidakten.

Genretechnisch vermengt Godard in Alphaville den Film Noir mit dem Science-Fiction-Film und erschafft somit eine Filmgegenutopie, deren Tradition fortan in Filmen wie THX 1138 (George Lucas) oder Gattaca (Andrew Niccol) fortgeführt wurde. Inhaltlich geht es um die Entfremdung – hier am Beispiel einer Stadt – durch blinden technischen Fortschritt, der innerhalb eines totalitären Systems rücksichtslos durch den Maßstab der Logik vorangetrieben wird. Wie in Jewgenji Zamjatins Roman „Wir“ oder in Aldous HuxleysSchöne neue Welt“ werden Anpassung und Gleichschaltung zum Wohl und Fortschritt der Gemeinschaft durchgesetzt. Wie in Bradburys bereits erwähnter Anti-Utopie wird die Kunst als unnötig und irrational eingestuft, wodurch die Bewohner Alphavilles einige Wörter verlernt haben. Dafür verwenden die Alphaville-Bürger ein Kauderwelsch, das ein George Orwells „Neusprech“ aus 1984 erinnert.

Für Godard-Verhältnisse ist mit Alphaville ein relativ geradliniger 96 minütiger Film entstanden, der dezente Science-Fiction-Elemente mit Versatzstücken aus dem Kriminal- und Agentenfilm vermischt. Trotz aller Geradlinigkeit ist auch dieser Film gespickt mit literarischen Zitaten und philosophischen und kulturgeschichtlichen Diskursen. Bisher gibt es allerdings keine deutsche DVD-Veröffentlichung, sondern lediglich UK-, Frankreich- und Niederlande-Importe.



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