Die alte Dame und die Tauben

(„La vieille dame et les pigeons“ directed by Sylvain Chomet, 1997)

Auch wenn wir in unserem fortlaufenden Animationsspecial eher auf Kurzfilme verzichten wollen – sonst würden wir hier nie ein Ende finden –, vereinzelte Ausnahmen machen wir dann schon. Siehe das Horrorkleinod Kakurenbo, siehe das Gemäldewunder The Old Man and the Sea. Und auch in Teil 113 werfen wir einen Blick auf ein recht kurzes, dafür nachhaltiges Vergnügen, welches das Debüt eines absoluten Ausnahmetalents darstellt.

Der Name Sylvain Chomet dürfte nicht allzu vielen Menschen etwas sagen. Das liegt zum einen an seinem zahlenmäßig eher bescheidenen Output: zwei Zeichentrickfilme, ein hierzulande nicht veröffentlichter Realfilm, ein paar Miniarbeiten. Aber auch an dem Werk selbst, welches nicht so wirklich mit denen seiner Animationskollegen zu vergleichen ist und sich konsequent dem Mainstream verweigert. Die Kritiker lagen ihm von Anfang an zu Füßen, gleich drei Oscarnominierungen kann der Franzose vorweisen. Gewonnen hat er kein einziges Mal, dafür war er dann wohl doch immer zu speziell, nicht so wirklich für ein jüngeres Publikum geeignet.

Am ehesten dürfte einem noch sein Langfilmdebüt Das große Rennen von Belleville geläufig sein, welches mit eigenwilligen Designs und groteskem Slapstick die Geschichte einer Großmutter erzählt, die sich auf die Suche nach ihrem entführten Enkel macht. Aber auch Chomets zweiter großer Ausflug in die Zeichentrickwelt, die warmherzige und überraschend realistische Jacques-Tati-Hommage Der Illusionist, ist für Freunde der Animationskunst ein absolutes Muss.

Das gilt dann ebendo für Die alte Dame und die Tauben, jenem Kurzfilm, mit dem er 1997 sein Debüt gab. Die Parallelen zu dem sechs Jahre später erschienenen Das große Rennen von Belleville sind dabei unverkennbar, beide eint der größtenteils wortlose Slapstick, der zum Teil unglaublich surreale Formen annimmt. Eine wirkliche Inhaltsangabe geben zu wollen, würde dem rund 23 Minuten langen Werk daher nicht gerecht werden, vor allem zu viele Überraschung vorwegnehmen. Nur so viel: Es handelt von besagter alten Dame, die im Park recht exzessiv die Tauben füttert und dabei von einem ausgehungerten Polizisten beobachtet wird, der von der kulinarischen Freigiebigkeit profitieren möchte. Eine skurrile Ausgangssituation, die sich anschließend in eine etwas unerwartete Richtung weiterbewegt. Und auch Chomets satirische Darstellungen von Amerikanern in Belleville findet hier einen Vorläufer, wenn in einer Anfangssequenz fette, überhebliche Touristen aufs Korn genommen werden, die nicht einmal wissen, in welchem Land sie sich gerade befinden.

Besagte Sequenz ist übrigens die einzige, in der Sprache verwendet wird. Da diese zudem noch auf Englisch ist, ist es zwar ein kulturelles Verbrechen, dass Die alte Dame und die Tauben bis heute nicht in Deutschland erschienen ist. Jedoch keines, das einen ernsthaft abhalten sollte, sich den Film einmal anzuschauen. Das Augenmerk liegt ohnehin auf der Optik, die dem Inhalt angemessen etwas eigene Wege geht. Enorme Größenunterschiede zwischen den Protagonisten, völlig verfremdete Proportionen und ein bizarr hervorstehendes Kinn treffen auf detailreiche Hintergründe, die so sehr das Pariser Flair einfangen, dass man sich selbst dort wähnt, so als würde man in der Hauptstadt Frankreichs gerade Urlaub machen. Mit dem Unterschied, dass die reizende Postkartenidylle immer wieder komische bis erschreckende Abgründe offenbart. Qualitativ muss sich das Frühwerk Chomets auch nicht wirklich vor seinen späteren Filmen verstecken, wenngleich es längenbedingt nicht die Abwechslung von Belleville hat und auch nicht die emotionale Wucht von llusionist. Das einzige Problem: Der ungewöhnliche Kurzfilm macht es nicht unbedingt einfacher, dass der nächste Film des Franzosen (The Thousand Miles) wohl erst nächstes Jahr fertig gestellt wird und zudem „nur“ eine Mischung aus Real- und Zeichentrickfilm sein wird.



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„Die alte Dame und die Tauben“ ist ein Kurz-Zeichentrickfilm, der an vielen Stellen schon Sylvain Chomets „Das große Rennen von Belleville“ vorwegnimmt: wortloser Slapstick, eine skurrile Geschichte, der Hang zum Surrealen und eine ungewöhnliche, mal realistische, dann wieder groteske Optik.
8
von 10