Alice 1988

(„Něco z Alenky“ directed by Jan Švankmajer, 1988)

Alice 1988Eigentlich besagte eine der Regeln unseres fortlaufenden Animationsspecials, dass nicht mehrere Teile derselben Reihe aufgenommen werden sollen, keine Protagonisten mehr als einmal auftauchen. Für Teil 81 machen wir nun aber eine Ausnahme. Denn der enthält zwar dieselbe Heldin wie zwei Wochen zuvor in Leon und die magischen Worte. Nur dass sie hier keine Heldin ist und radikal anders interpretiert wurde – inhaltlich wie optisch.

Als Alice (Kristýna Kohoutová) eines Tages in ihrem Schlafzimmer sitzt, beobachtet sie, wie das ausgestopfte weiße Kaninchen zum Leben erwacht, aus seiner Vitrine ausbricht und verschwindet. Die Gelegenheit lässt sich das Mädchen natürlich nicht entgehen und folgt dem (un)toten Tier über einen Acker zu einem dort zurückgelassenen Schreibtisch. Doch das ist nur der Anfang von Alice’ Reise, denn die Schublade öffnet den Weg zu einem wundersamen Land.

Rund zwei Dutzend Kurzfilme hatte der tschechische Regisseur Jan Švankmajer bereits in seiner zwanzigjährigen Karriere realisiert, als er sich mit Alice das erste Mal an einen Langfilm heranwagte. Dass er sich dafür „Alice in Wunderland“ heraussuchen würde, war kein großes Wunder, schließlich hatte er schon 1971 bei Jabberwocky seine Vorliebe für die Geschichten von Lewis Carroll gezeigt. Vor allem aber gehörte Švankmajer zu der surrealistischen Bewegung seines Landes, die in ihren Werken so kompromisslos war, dass ihnen häufig durch die Obrigkeit die Arbeit untersagt wurde. Und welches Buch eignet sich für einen Film da besser als das 1865 traumartige Abenteuer von Alice, in der sie eine seltsame Erfahrung nach der anderen macht, in der alle Regeln aufgehoben werden?

Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen verzichtet Švankmajer dann auch darauf, einen Film für Kinder zu drehen: Das Märchenhafte, welches unter anderem die Disney-Version auszeichnete, ist hier verschwunden, verstümmelt, verdreht. Und das beginnt schon mit dem Kaninchen, welches hier kein putziges Plüschtier ist, sondern ein echtes, welches von den Menschen getötet und präpariert wurde. Den ganzen Film über sucht es dann auch nach Sägespänen, die es mal löffelt, dann wieder von seiner Taschenuhr leckt, um so seine Füllung wiederherzustellen, die es durch ein Loch im Bauch verliert. Auch alle anderen Figuren sind durch Objekte dargestellt und mittels Stop-Motion-Verfahren animiert – einschließlich Alice, die mal real, dann wieder eine Puppe ist.

Ganz originalgetreu ist die Verfilmung damit nicht, was sich im tschechischen Originaltitel widerspiegelt: Něco z Alenky, auf Deutsch „Etwas mit Alice“. Auf diverse Figuren muss verzichtet werden, etwa die Grinsekatze oder der Greif, andere wurden uminterpretiert (der Märzhase wird zu einem Aufziehspielzeug), durch neue ersetzt (statt der Haselmaus treffen wir einen Marder bei der Teegesellschaft). Und manche Figuren sind auch komplett neu, zum Beispiel die Sockenmonster, welche sich durch den Boden fressen. Die gesamte Atmosphäre ist unheimlich, alptraumhaft. Und auch klaustrophobisch – im Gegensatz zum ausgedehnten Wunderlands des Buchs spielt der Film ausschließlich in engen Räumen.

Das Gefühl des Eingesperrtsein wird noch weiter dadurch verstärkt, dass es hier keinen Austausch, keine Kommunikation gibt. Immer wieder versucht Alice das Kaninchen anzusprechen, dieses starrt sie jedoch nur mit seinen toten Glasaugen an. Dialoge gibt es keine, die wenigen Zeilen, die von den Bewohnern kommen, werden von Alice gesprochen. Das ist ein interessanter Kniff, um in der Welt des Traumes zu bleiben. Allerdings nutzt er sich mit der Zeit ab, verhindert so auch die brillant-absurden Wortspielereien der Vorlage. Ebenfalls weniger schön ist, dass viele Szenen von irritierenden Wiederholungen geprägt sind, immer eine Spur zu lange dauern. Aber vielleicht gehörte auch das zum Plan von Švankmajer: Alice ist ein ungemütlicher, verstörender Film. Ein Film, bei dem man sich zwischendrin immer wieder fragt, ob man ihn tatsächlich sehen will. Ein Film, der einen gleichzeitig aber auch so durch seine Fremdartigkeit fesselt, dass man dem Weg durch das bizarre Wunderland immer weiter folgt.

Leider hat es der filmische Alptraum nie nach Deutschland geschafft, obwohl seinerzeit der Hessische Rundfunk das Projekt mitfinanzierte. Glücklicherweise gibt es jedoch einen günstigen UK-Import, der DVD und Blu-ray kombiniert, ein umfangreiches Booklet und diverse nette Extras enthält, darunter die erste Filmversion von Alice im Wunderland (1903). Wer auch nur ansatzweise etwas für surreale, düstere Bilderwelten übrig hat oder auch für Stop Motion – Švankmajer gilt nicht ohne Grund als einer der Großen seines Faches, beeinflusste Künstler wie Tim Burton, Terry Gilliam oder die Quay-Brüder – der sollte die Investition definitiv tätigen. Unterhaltsam ist das nicht immer, was Alice da bietet, dafür aber ungemein faszinierend und voller grotesker Figuren, die einen bis in den Schlaf verfolgen. Und ein gutes Stück darüber hinaus.



(Anzeige)

In seiner recht freien Interpretation von „Alice im Wunderland“ verzichtet der tschechische Surrealist Jan Švankmajer auf das Märchenhaft-Farbenfrohe anderer Versionen. Stattdessen nimmt er uns mit in eine alptraumhaft-klaustrophobische Welt voller grotesker Figuren.
7
von 10