Gwen le livre de sable
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Gwen et le livre de sable

(„Gwen et le livre de sable“ directed by Jean-François Laguionie, 1985)

Letzte Woche haben wir euch mit Giovannis Insel einen Film ans Herz gelegt, der zeigt, dass auch mit Zeichentrick erschreckend reale Geschichten erzählt werden können. In Teil 43 unseres fortlaufenden Animationsspecials ist das Gegenteil der Fall: Wir lassen die bekannte Welt weit hinter uns und begeben uns auf eine einmalige, surreale Reise.

Geht nachts nicht nach draußen, sonst könnte euch das Etwas holen! Während die Nomaden tagsüber durch die Wüste streifen, ziehen sie sich bei Einbruch der Dunkelheit in den Brunnen zurück, aus Furcht vor dem unbekannten Wesen, welches unter dem Sand leben soll und fremdartige Objekte regnen lässt. Lediglich die 13-jährige Gwen lässt sich von den Warnungen nicht beeindrucken und überredet den Sohn der alten Roseline, die Nacht im Freien zu verbringen. Als sie aufwacht, ist sie allein, von dem Jungen ist weit und breit nichts zu sehen. Gemeinsam mit Roseline macht sich das Mädchen auf den Weg und entdeckt dabei die Überreste einer vergangenen Zivilisation.

Wenn von französischen, surrealen Animationsfilmen die Rede ist, dann fällt rasch der Name René Laloux (Der phantastische Planet, Herrscher der Zeit), vielleicht auch Paul Grimault (Der König und der Vogel). Jean-François Laguionie hingegen dürfte hierzulande nur wenigen ein Begriff sein, und das aus gutem Grund: Mit Die Pirateninsel von Black Mor und Kwom und der König der Affen schafften es lediglich zwei Werke des Veteranen nach Deutschland, bei beiden handelt es sich um recht herkömmliche Abenteuergeschichten für ein jüngeres Publikum. Ganz anders Gwen et le livre de sable – auf Deutsch Gwen und das Buch des Sandes – welches 1985 in Frankreich erschien und das Langfilmdebüt von Laguionie darstellt. Wobei lang hier relativ zu sehen ist, mit gut 60 Minuten Laufzeit ist das Vergnügen eher kurz, vergessen wird man es im Anschluss aber nicht so bald.

Telefone, Koffer, Fahrräder – in unserer Welt sind dies recht gewöhnliche Objekte, mit denen so ziemlich jeder etwas anzufangen weiß. Nicht so bei den Nomaden. Sie brauchen nicht mehr als ihre Krüge und Töpfe sowie die Stelzen, auf denen sie die Wüste durchqueren. Worum es sich bei den seltsamen Gegenständen handelt, das kann keiner sagen. Und auch nicht, warum das Etwas sie in regelmäßigen Abständen vom Himmel fallen lässt. Später erfährt der Zuschauer, wie es dazu kommt, doch das „warum“ bleibt auch nach dem Abspann unbeantwortet, Laguionie begnügt sich damit, dem Zuschauer Rätsel mit auf den Weg zu geben. Was dieser anschließend damit anfängt, das interessierte den Franzosen weniger. Wer bei Filmen eine stringente Handlung einfordert, sollte lieber daheim bleiben und die Nomaden ihrem Schicksal überlassen.

Ohnehin ist der Inhalt wie bei surrealen Filmen so oft recht dünn, die Figuren nicht mehr als ein Mittel zum Zweck. Doch darum geht es in Gwen et le livre de sable auch gar nicht, das Abenteuer will erlebt, nicht erklärt werden. Zu interpretieren gibt es hier sicherlich genug, gerade wenn zum Schluss die Brücke zur Zivilisation gebaut wird, darf man über so manche Errungenschaft nachdenken. Wirklich notwendig ist das jedoch nicht, auch ohne geistige Eigenbeteiligung ist eine Reise durch diese sonderbare Welt eine audiovisuell lohnenswerte Erfahrung. Wer auch nur ansatzweise etwas für Surrealismus übrig hat, für den ist das französische Kleinod sogar ein Muss.

Optisch hat Gwen et le livre de sable nicht viel mit seinen Zeitgenossen gemeinsam, der Film ist weniger gezeichnet als vielmehr mit Gouache gemalt. Wenn Gwen und die alte Roseline durch die Wüste streifen, dann erweckt das dann auch den Eindruck, ein Gemälde vor sich zu sehen, irgendwo zwischen Giorgio de Chirico und Salvador Dali. Dazu ertönt vereinzelt eine melancholische Streichermusik, ansonsten hören wir nur den rauen Wind, ein Flüstern und die Stille – die Menschen in Laguionies Film sind von Ort und Zeit vergessen.

Auf Deutsch ist dieses poetische Kunstwerk wie gesagt nie erschienen, bis auf eine nur noch antiquarisch erhältliche französische DVD gibt es allgemein keine Möglichkeit, sich den Geheimtipp ins heimische Regal zu stellen. Glücklicherweise ist der Film jedoch in seiner kompletten Länge auf YouTube zu finden, sogar mit englischen Untertiteln. Wer auf eine deutsche Sprachfassung verzichten kann, darf übrigens auch nach Laguionies letztem Film Le Tableau (englisch The Painting) Ausschau halten. Dort kehrt der Altmeister zur Kunst zurück und erzählt die Geschichte eines unvollendeten Gemäldes, dessen Figuren sich auf die Suche nach dem Maler machen, damit der sein Werk abschließt.



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In seinem ersten Langfilm nimmt uns der Animationskünstler Jean-François Laguionie auf eine fantastische Reise in ein fremdes Land mit. Viel erklärt wird nicht, doch für Freunde des Surrealen ist dieses poetische und melancholische Kleinod ein Muss.
8
von 10