Gullivers Reisen
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(„Gulliver’s Travels“ directed by Dave Fleischer, 1939)

Gullivers ReisenWie schon letzte Woche in Ayakashi: Samurai Horror Tales steht auch in Teil 39 unseres fortlaufenden Animationsspecials ein klassisches Werk aus der Literatur Pate für eine Zeichentrickgeschichte. Doch dieses Mal ist der Ton deutlich freundlicher und für Kinder ausgerichtet, wenngleich die Bedrohung hier nicht weniger groß ist.

Hoch lebe das Brautpaar! Die Mitgift ist verteilt, die Deko angerichtet, auch die Hochzeitstorte steht schon bereit, die Feierlichkeiten könnten also losgehen. Wäre da nicht eine Kleinigkeit: Der König von Lilliput und der König von Blefuscu können sich nicht darüber einigen, welche Nationalhymne während der Trauung gespielt werden soll. Aus der Unstimmigkeit wird ein Streit, anschließend droht sogar ein richtiger Krieg. Und das, wo vor den Toren der Stadt doch eine viel größere Bedrohung lauert. Wortwörtlich. Während sie beiden Herrscher sich in den Haaren liegen, wird am Strand der Riese Gulliver ans Ufer gespült.

Was die können, das können wir doch schon lange, müssen sich Dave und Max Fleischer gedacht haben, als sie von dem enormen Erfolg des ersten abendfüllenden Zeichentrickfilms Schneewittchen und die sieben Zwerge von Walt Disney erfuhren. Neidisch auf die großen Einnahmen des Konkurrenzstudios beauftragte Paramount Pictures das Brüderpaar, welches unter anderem die erfolgreichen Serien Betty Boop und Popeye zu verantwortlichen hatte, es diesem gleichzutun. Die Bedingungen waren dabei jedoch nicht übermäßig günstig, um des Zeitdrucks Herr zu werden – schließlich wollte man das lohnende Weihnachtsgeschäft nicht verpassen – wurden die Fleischer Studios immens aufgebläht, der Film musste fertig werden, koste es, was es wolle.

Für den Zuschauer hatte diese Materialschlacht durchaus angenehme Folgen, wer sich heute Gullivers Reisen anschaut, wird kaum glauben, dass der Film schon 75 Jahre alt ist. Von Disneys Meisterwerken einmal abgesehen gab es die folgenden Jahrzehnte kaum Filme, die es animationstechnisch mit dem Zeichentrickuropa aufnehmen konnten. Immer noch sehenswert ist dabei gerade auch die Figur des Gullivers an sich. Dave konnte hier auf das von seinem Bruder entwickelte Rotoskopie-Verfahren zurückgreifen, in dem Bewegungen fotografiert und anschließend abgezeichnet werden, um so realistischer zu wirken. Doch auch wenn diese Vorgehensweise sich nie wirklich durchgesetzt hat, findet sie noch immer dann und wann Verwendung, zuletzt etwa in Alois Nebel oder Aku no hana – Die Blumen des Bösen.

Wenn eines das Alter von Gullivers Reisen verrät, dann ist es vor allem die musikalische Untermalung. Immer wieder werden sentimentale Schlager geträllert, dazu gibt es – wie es früher nun mal üblich war – leicht aufdringliche Orchesterstücke, welche fest ins Geschehen integriert sind, teilweise dieses auch aufnehmen. Aber auch der Humor erinnert an anno dazumal, wenn Slapstick auf ausgiebige Grimassen stößt. Dass dieses Comichafte nicht so ganz mit dem Ultrarealismus von Gulliver harmoniert, stört dabei nicht weiter, schließlich wird so der Kontrast zwischen dem Fremden und den Einheimischen sehr schön auch in Bildern festgehalten.

Für Animationshistoriker ist der Film daher trotz seines Alters interessant, für nostalgisch veranlagte Zuschauer ebenso. Vor allem aber richtet sich Gullivers Reisen damals wie heute an ein jüngeres Publikum. Anders als Schneewittchen, dessen düstere Passagen so manchen verstört haben dürften, strichen die Fleischer-Brüder aus der bekannten Vorlage von Jonathan Swift alles, was irgendwie anstößig sein könnte. Im Original noch ein satirisches Werk mit vielen Spitzen auf die reale Welt, wurde hier ein zwar humorvolles, aber doch sehr harmloses Abenteuer draus, an dem anfangs viel gestritten wird, letzten Endes aber keiner zu Schaden kommt. Das Publikum nahm diese Änderungen dankend an, die Einspielergebnisse waren gut genug, um zwei kurzlebige Cartoon-Serien hervorzubringen. Doch der Erfolg sollte den beiden Filmemachern kein Glück bringen, schon das zweite abendfüllende Werk Hoppity kommt zurück wurde während des Zweiten Weltkriegs zu einem finanziellen Desaster und leitete so das Ende der Fleischer Studios ein.



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75 Jahre später gehört das Urgestein „Gullivers Reisen“ zweifelsfrei zu den großen Zeichentrickklassikern. Die Animationen sind noch immer sehenswert, auch dank des Rotoskopie-Verfahrens. Kenner der literarischen Vorlage werden das Ausmerzen sämtlicher satirischer Elemente bemängeln, jüngere Zuschauer und Nostalgiker werden mit dem humorvollen und harmlosen Abenteuer dafür ihren Spaß haben.
7
von 10