Der Mohnblumenberg
Der Mohnblumenberg (2011)

Der Mohnblumenberg

(„Kokuriko-zaka kara“ directed by Gorô Miyazaki, 2011)

Der MohnblumenbergEinige Jahre ist es her, dass das Schiff ihres Vaters während des Koreakrieges versank, aber noch immer hisst Umi Matsuzuka pflichterfüllt jeden Tag die Signalflaggen. So also könne er doch noch zurückkommen. Auch sonst ist das 16-jährige Mädchen ein Musterbeispiel für Verantwortungsbewusstsein: Während die Mutter als Ärztin gerade in den USA ist, übernimmt Umi das Kommando für das Gasthaus der Familie. Sie kocht, kümmert sich um den Haushalt und die Bilanzen, ihr Alltag beschränkt sich auf Arbeit und Schule.

Unterbrochen wird dieser, als sie von einem Gedicht in der Schülerzeitung erfährt, das ein Unbekannter für sie verfasst hat. Könnte es Shun sein, den sie zeitgleich kennenlernt? Noch ohne die Antwort zu wissen, kommen die beiden sich näher, freunden sich an und entwickeln auch Gefühle, die darüber hinaus gehen. Was für beide eine völlig neue Erfahrung ist. Und als wäre die Situation nicht schon kompliziert genug, soll das Clubhaus, in dem die Schülerzeitung und viele andere Schulaktivitäten stattfinden, abgerissen werden, weil der Platz für die Olympischen Sommerspiele 1964 gebraucht wird. Zusammen mit Schülersprecher Shiro versuchen die beiden, das große Unglück abzuwenden.

Als Anime-Fan hat man es dieser Tage in Deutschland nicht leicht. Hin und wieder schafft es mal wieder ein empfehlenswerter Film ins Verkaufsregal wie kürzlich The Garden of Words oder die längst überfällige Veröffentlichung von Jin-Roh. Aber sie sind rar geworden. Und noch deprimierender, wer die gezeichneten Geschichten auf der großen Leinwand genießen möchte. Bestes Beispiel ist Der Mohnblumenberg von Studio Ghibli. Wurde vor zehn Jahren Chihiros Reise ins Zauberland noch als Großereignis gefeiert, schaffte es das neueste Werk des japanischen Animationsstudios nur noch in ausgewählte Kinos. Wie schade das ist, zeigt die Veröffentlichung dieser Tage auf DVD und Blu-ray.Der Mohnblumenberg Szene 1

Zum zweiten Mal darf Regisseur Gorô Miyazaki sich daran versuchen, in die übergroßen Fußstapfen seines Vaters Hayao zu treten. Und das klappt im Vergleich zu seinem Debüt Die Chroniken von Erdsee schon deutlich besser, vielleicht auch, weil sich dieses Mal Papa zusammen mit Keiko Niwa fürs Drehbuch verantwortlich zeichnet – also das Team hinter Arrietty. Wenn Vergleiche anstehen, dann sind aber Stimme des Herzens und Flüstern des Meeres die naheliegendsten Kandidaten. Schließlich stehen auch hier eine warmherzige, manchmal witzige Coming-of-Age-Geschichte im Mittelpunkt, erste verwirrende Gefühle und die Suche nach sich selbst.

Basierend auf einem Manga von Tetsurô Sayama erinnert uns Miyazaki daran, was es heißt Teenager zu sein, wo Blicke und Gesten alles bedeuten können und nichts so schwierig erscheint, wie das eigene Innenleben in Worten auszudrücken. Verpackt wurde das, wie bei dem Studio üblich, in liebevolle, größtenteils handgefertigte Zeichnungen, die so gar nichts mit dem gemein haben, was gerne als typisch Anime angesehen wird: Große Kulleraugen gibt es keine, hier wird nicht nur beim Inhalt, sondern auch bei der Optik viel Wert auf Realismus gelegt.Der Mohnblumenberg Szene 2

Etwas Gefühlsduselei muss dann aber doch sein, vor allem eine unerwartete Wendung hätte auch aus einer Soap Opera stammen können. Doch das ist zum Glück die Ausnahme, die leisen Töne dominieren das Geschehen, weniger das große Drama. Damit einher geht, wie so oft bei Ghibli, auch eine gewisse Nostalgie. Dass der Film in den frühen 60ern spielt, als Japan noch auf der Suche einer neuen Identität war – auf der einen Seite die Vorkriegstraditionen, auf der anderen die neuen Einflüsse aus den USA – ist kein Zufall. Und auch nicht, dass der Schauplatz Yokohama ist, das mit seinem großen Hafen das Eingangstor des Landes war und damit Schmelztiegel von alten Werten und modernen Errungenschaften. Als eine Art Kostümfilm bezeichnete Miyazaki daher auch sein Zweitwerk im Interview auf der Scheibe. Ganz so weit muss man nun nicht gehen, ein überzeugendes Zeitporträt einer geschichtsträchtigen Nation ist Der Mohnblumenberg aber sicherlich.

In einem Atemzug mit den größten Filmen seines Vaters wird Der Mohnblumenberg eher nicht genannt werden, dafür fehlt dann doch noch die eigene Handschrift. Aber Miyazaki junior zeigt, dass er auf einem guten Weg ist und das traditionsreiche Animationsstudio auf vielversprechenden Nachwuchs zurückgreifen kann, wenn die Altmeister und Gründungsväter ihren Ruhestand antreten.



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Auch wenn zu den großen Meisterwerken des Vaters der Weg noch weit ist, reiht sich der zweite Film von Gorô Miyazaki zumindest nahtlos in das Gesamtwerk von Studio Ghibli ein. Die Stärken von Der Mohnblumenberg sind neben der authentischen Coming-of-Age-Geschichte wie so oft die liebevollen Zeichnungen.
8
von 10