Rashomon

Rashomon

(„Rashomon“, directed by Akira Kurosawa, 1950)

Stephan Eicke zur Criterion Edition

“It’s human to lie. Most of the time we can’t even be honest with ourselves.”

Michael Hanekes Statement, dass es keine Wahrheit gebe, da diese vom Standpunkt abhinge, trifft vielleicht auf keinen Film in größerem Umfang zu, als auf Rashomon von Akira Kurosawa, einen der ungewöhnlichsten und beeindruckendsten Filme der Geschichte. Die letzte Szene macht die Äußerung Hanekes (Caché, Das weiße Band) am deutlichsten: drei Männer finden in einer Ecke des halb verfallenen Tempels Rashomon ein kleines Baby, in Laken gehüllt. Einer der Männer nimmt die Laken an sich, woraufhin er von einem anderen Mann stark kritisiert und als Dieb beschimpft wird. Doch der Dieb rechtfertigt sich: später hätte irgendjemand sonst diesen Kimono genommen, warum sollte er ihn nicht also jetzt nehmen, wo das Baby ihn eh noch nicht tragen könne? Ist dieser Mann, der die Laken an sich genommen hat ein Dieb oder nicht? Ist seine Tat zu rechtfertigen oder muss er dafür verurteilt werden?

Für ihn ist es rechtens, seine Argumentation ist – zumindest für ihn selbst – schlüssig. Der Andere jedoch kontert, dass es nicht sein Eigentum sei und er seine Finger davon zu lassen habe. Wer von beiden hat nun Recht? Akira Kurosawa spielt mit der Wahrheit und ihrem Stellenwert in der Gesellschaft, in einem seiner bekanntesten Filme ist die Satire genauso Realität wie das, was sie parodiert. Ist die Parodie Realität, die Szene, auf der sie basiert aber nicht? Oder umgekehrt? Was können wir glauben, was können wir wissen? Nur eines: dass wir nichts mit Sicherheit sagen können, was nun hinter diesem Film steckt, was reell und was falsch ist. Rashomon spielt mit dem Zuschauer, wie es kaum je ein Film getan hat. Und er hat sichtlichen Spaß daran.

Alles beginnt zu einem Zeitpunkt, den wir nicht einordnen können. Wir sehen einen halb verfallenen japanischen Tempel. Irgendwo. Irgendwann. Dichter Regen peitscht hernieder. Zwei Männer haben sich in dem Tempel zurückgezogen. Sie sind vor den Regenmassen geflüchtet. Der eine von ihnen stammelt, er habe noch nie so eine furchtbare Geschichte gehört, der andere sagt, er habe dadurch seinen Glauben an das Gute im Menschen verloren. Und gnadenlos peitscht der Regen weiter hernieder, als ein Dritter den Tempel betritt. Er will die Geschichte hören, die so furchtbar ist, dass die zwei Männer kaum ein Wort herausbringen. Ein Mann wurde ermordet, sagt man schließlich. Der Neue lacht. Einer bloß? Sechs würde man nur wenige Meter entfernt finden. Eine schreckliche Zeit sei das, erwidert ein anderer. Krieg, Pest, Umweltkatastrophen. Vielleicht findet diese Geschichte in einer dystopischen Zukunft statt, vielleicht in einer gebeutelten Vergangenheit.

Man beginnt, die Geschichte zu erzählen. Sie handelt von Tajomaru (Toshirô Mifune), einem Räuber, Macho und Frauenhelden. Dieser erwacht eines Tages unter einem Baum und erblickt zwei Menschen – einen Mann und dessen Ehefrau. Vom Anblick dieser Frau derart verzaubert, versucht er, sie für sich zu gewinnen – auch, wenn er dafür ihren Mann töten muss. Wenig später wird dieser Ehemann tot aufgefunden und alle Beteiligten geben ihre Version der Geschichte wieder. Rashomon ist kniffelig, verschachtelt und komplex, voller loser Enden, die dem Zuschauer vor die Füße geworfen werden, damit er daraus etwas Schönes mache. Kurosawa gibt sich nicht die Mühe, all das aufzulösen, was es aufzulösen gilt. Warum auch? Wozu sollte es dienen? Der Wahrheit? Welche dieser Geschichten ist die Wahrheit? Stimmt überhaupt irgendeine davon oder ist alles erlogen? Ist die Wahrheit eine Mischung aus all diesen Geschichten, die man vor dem Gericht erzählt? Ein Gericht, das man nie sieht, eine Polizei, die nie auf dem Bildschirm erscheint, denn der Zuschauer selbst ist das Gericht, nur er wird unmittelbar angesprochen und muss entscheiden, was rechtens ist und was nicht.

Der Film ist ein unmittelbares Medium, das weniger Fantasie erlaubt als ein Buch oder ein Radiostück. Der Film ist visuell. Der Zuschauer bekommt bewegte Bilder vorgesetzt, die ihm als Wahrheit verkauft werden und der Zuschauer muss dies so hinnehmen, er hinterfragt in den meisten Fällen nicht, da sein Vorstellungsvermögen nicht derart angeregt ist wie bei einem Buch oder im Radio, denn die Bilder sind da. Hier jedoch ist Skepsis angebracht. Nicht alles, was einem als Zuschauer vorgesetzt wird, ist richtig. Der Film kann als Mittel zu Propagandazwecken missbraucht werden, hier bei Kurosawa wird er zum Mittel für Täuschung und Realitätshinterfragung. Diese Hinterfragung ermöglicht, dass ein jeder Zuschauer, den man nach Sichtung des Films fragt, was er gesehen habe bzw. worum es in dem Werk ging, eine andere Antwort erwidert.

Rashomon erlaubt das wie nur wenige Filme und darin liegt, laut Regisseur Robert Altman, die Qualität dieses einzigartigen Werkes, das durch diese Eigenschaft die ganze Kunst des Mediums in sich vereint. In unendlicher Bildgewalt bekommt man eine Version dieser sagenumwobenen Geschichte erzählt, doch wir hören die Erzählungen oft nicht, sondern sehen sie nur in Bildern auf Zelluloid gebannt und müssen uns fragen, ob dies der eigentliche Tathergang ist oder die Geschichte, wie der Erzähler sie sieht oder eine Erfindung des Erzählers, der sich einige Freiheiten mit seinem angeblichen Erlebnis erlaubt. Dieser Ansatz von Kurosawa erlaubt scheinbar alles, denn all das ist ein Spiel, das schon längst jenseits den Grenzen von Realität und Fiktion stattfindet und das auch ein Auftreten des Übernatürlichen erlaubt. Hier ist es die Stimme des Toten, die erklingt und ihre Geschichte erzählt. Der Zuschauer akzeptiert das, denn er weiß: Tote sprechen nicht. Dieses Paradoxon erklärt sich durch das ganze Konstrukt des Films, in dem alles und nichts realistisch ist. Alles ist gleichwertig. Alles ist Lüge oder alles ist Wahrheit. „Es interessiert mich nicht, ob es eine Lüge ist, solange es unterhaltsam ist“ sagt eine Person in Rashomon. Diese Aussage spricht für sich und für vieles mehr.

Falko Fröhner zum SZ-Release

Akira Kurosawa schildert in seinem Klassiker Rashomon einen Mord aus verschiedenen Perspektiven und stellt somit die Frage nach der Existenz einer objektiven Realität- jeder der dargestellten Blickwinkel wirft ein völlig anderes Licht auf das Verbrechen und misst den beteiligten Personen eine andere Rolle in Bezug auf den Tathergang und die Frage, wer nun der Mörder ist, bei. Die „Augenzeugen“ legen in einem Gerichtshof ihre Versionen des Geschehenen dar, indem sie sich bei ihren Schilderungen direkt an den Zuschauer, dem also die Rolle des „Richters“ zugewiesen wird, wenden. In Form (subjektiver!) Rückblenden, die die Aussagen der Zeugen visualisieren, wird jener Mord dermaßen verschiedenartig dargestellt, dass die Entwicklung einer klaren, differenzierten Sichtweise auf die tatsächlichen Tatumstände schier unmöglich ist; auf Grund des Leichenfundes scheint lediglich festzustehen, dass ein Mann getötet wurde…

Rashomon erscheint durch die Konfrontation des Zuschauers mit einem scheinbar unlösbaren Rätsel außerordentlich modern und lässt daher hinsichtlich seiner Kernthematik Bezüge zu Werken wie Resnais‘ Letztes Jahr in Marienbad oder Lynchs Mulholland Drive erkennen (wobei anzumerken ist, dass sich die letztgenannten Titel auf eine völlig andere Weise mit der Frage nach dem Vorhandensein einer objektiv fassbaren Realität auseinandersetzen). Auf Grund des Alters von Rashomon kann man diesen in gewisser Weise als Inspirationsquelle später entstandener, thematisch verwandter Filme begreifen.

Besondere Huldigung verdient des Weiteren die perfekte Kameraarbeit Kazuo Miyagawas, dem es gelingt, den Film, der überwiegend in der freien Natur gedreht wurde, in überwältigende Schwarz- Weiß- Bilder zu kleiden. Als störend und daher qualitätsmindernd erweist sich, dass Rashomon zum Ende hin zu pathetisch und (auf eine fast schon aufdringliche Weise) emotional wird, was sich m.E. nicht in das Gesamtbild des Films einfügt.

Insgesamt bietet Rashomon anspruchsvolles Kino, das wegen der ungewöhnlichen Inszenierung und der philosophischen Thematik einen enormen Einfluss auf die Filmgeschichte ausübte und auch aus heutiger Sicht noch zu überzeugen weiß.

Am besten fasste wohl Robert Altman den künstlerischen Wert dieses Films in Worte:

„Everybody you will talk to (…) and ask him questions about the film will not give you the same answers (…) which is what art is- it penetrates your intellect, your mind (…) and your experience and history has to react on this new information but you’re reacting from your own persona on it and that’s what gives “Rashomon” such a power (…).”



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Stephan Eicke
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Falko Fröhner
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